Unter Schnee
Ulrike Ottinger ist eine der herausragendsten, avantgardistischen Filmemacherinnen und zeitgenössischen Künstlerinnen ihrer Generation. Zu ihrem äußerst vielschichtigen Werk gehören nicht nur Spiel- und Dokumentarfilme, sondern auch Bilder und Collagen, Fotografien, Theater- und Bühneninszenierungen.
Aufgewachsen in Konstanz, zog sie als Zwanzigjährige nach Paris, wo sie als freie Fotografin und Malerin arbeitete und den Kontakt zum Film fand. Zurück in Deutschland, realisierte sie gemeinsam mit der Schauspielerin Tabea Blumenschein ihren ersten Film Laokoon & Söhne (1972-73), bei dem sie – wie in fast jeder ihrer Produktionen – für Regie, Kamera, Drehbuch und Produktion verantwortlich zeichnete. Mit einem ausdrucksstarken, surrealistischen Inszenierungsstil und dem weitgehenden Verzicht auf eine lineare Handlung entwickelte sie hier schon wesentliche Merkmale ihres filmischen Schaffens. Für Kontroversen, aber auch für internationalen Erfolg sorgte die Piratinnenfilmparodie Madame X – Eine absolute Herrscherin (1977), ein Meilenstein queerer Filmgeschichte. In den folgenden Jahren produzierte Ulrike Ottinger ihre Berlin-Trilogie aus Bildnis einer Trinkerin (1979), Freak Orlando (1981) und Dorian Gray im Spiegel der Boulevardpresse (1984).
Mit der viereinhalbstündigen Dokumentation China. Die Künste – der Alltag (1985) wandte sich Ulrike Ottinger dem Dokumentarfilm zu. Extrem lange Erzählformen, denen ebenso intensive wie lange Recherchen vorangehen, eine Faszination für ferne Kulturkreise und fernöstliche Formensprache prägen dieses dokumentarische Schaffen. Sie verzichtet dabei zumeist auf Kommentare, um Bild und Ton eigenständig wirken zu lassen und einen „exotisierenden“ Blick auf andere Kulturen zu vermeiden. Unter anderem begleitete sie für die achteinhalbstündige Produktion Taiga (1991–92) Nomaden der nördlichen Mongolei auf ihren Wanderungen, Exil Shanghai (1997) zeigt Shanghai als Zufluchtsort für jüdische Flüchtlinge aus dem Europa der Nazizeit, das sechsstündige Reise-Essay Südostpassage (2002) erforscht die Länder im südöstlichen Europa, Unter Schnee (2011) erkundet den Alltag in der japanischen Provinz Echigo, wo bis in den Mai hinein oft meterhoch Schnee liegt. 2012 standen sie und ihr Werk selbst im Fokus einer Dokumentation: Ulrike Ottinger – Die Nomadin vom See von Brigitte Kramer. Nach einer monatelangen Reise auf den Spuren großer Forschungsreisender des 18. und 19. Jahrhunderts entlang der Beringsee schuf Ottinger ihren mit zwölf Stunden bislang längsten Dokumentarfilm Chamissos Schatten (2016).
Ulrike Ottingers Filme wurden vielfach ausgezeichnet, unter anderem mit dem Bundesfilmpreis, der Berlinale Kamera und dem Preis der deutschen Filmkritik. Ihre Werke wurden in zahlreichen Retrospektiven und Einzelausstellungen renommierter Häuser gewürdigt, darunter dem MoMA in New York, der Pariser Cinémathèque française und dem Centre Pompidou. Mit ihren fotografischen und filmischen Arbeiten war sie zu großen Kunstausstellungen wie der Biennale di Venezia, der Documenta und der Berlin Biennale geladen.
Wie viele ihrer Filme fand auch ihr jüngster seine Uraufführung bei der Berlinale: Paris Calligrammes (2018–20) verwebt Ulrike Ottingers persönliche Erinnerungen an Paris mit den sozialen, politischen und kulturellen Umbrüchen der 1960er Jahre zu einem filmischen Figurengedicht.
In der japanischen Provinz Echigo liegt bis in den Mai hinein meterhoch Schnee. So märchenhaft das Schneeland auch aussehen mag, so mühsam ist das Leben in der weißen Kälte für die Bewohner*innen der Region. Ulrike Ottinger beobachtet das aktuelle Leben und schickt gleichzeitig zwei Darsteller*innen auf eine Reise in die Vergangenheit der Gegend. Unter Schnee ist ein realistischer Dokumentarfilm über eine Landschaft und ebenso eine Erkundung ihrer Mythen.